Medizin-Geschichten

Die Heilpflanze des Monats Juli 2015
Kurioses, Bizarres, Interessantes

Folge 39: Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna)

Die Tollkirsche ist, wie der Name schon sagt, die Beere, die verrückt macht, die verzaubert. Dieser Pflanze wurden von alters her magische und medizinische Kräfte zugeschrieben. Doch plötzlich war die Tollkirsche eine der so genannten „Hexenpflanzen“. Wie kam es zu diesem Bedeutungswandel? Vorab ein kurzer Exkurs zum Thema „Hexen“.

Tollkirsche

Schwarz und glänzend wie Lack sind die Beeren der Tollkirsche. Sie sind saftig und schmecken süß, aber sie sind äußerst giftig. Vergiftungen mit den schwarzen Beeren der Tollkirsche sind denn auch recht häufig. Nur drei bis vier Beeren sind für Kinder tödlich. Bei Erwachsenen führen 10 bis 12 Beeren zum Tod. Das entspricht einer letalen Dosis von 1,4 mg pro Kilogramm. Auch die Blätter sind giftig: Vergiftungserscheinungen können bereits ab 0,3 g auftreten. Foto: Armstrong

Von Anfang des 15. bis ins 17. Jahrhundert waren die Zeiten in Mitteleuropa hart. Die „Kleine Eiszeit“ brachte Hungerkatastrophen und Seuchen. Man suchte nach Schuldigen und erklärte zunächst die Vertreter der Kirche zu Sündenböcken. Die Kirche wehrte sich und behauptete, es sei genau andersherum: Das Festhalten an alten heidnischen Bräuchen werde mit Hunger und Seuchen bestraft. Und so wandte man sich gegen die, die alten Zeiten repräsentierten: die Kräuterfrauen. Diese weisen Frauen waren eigentlich hoch angesehen, aber sie waren auch gefürchtet. Denn sie kannten nicht nur die Kräfte der Pflanzen, sondern auch die Geheimnisse der Familien… Die Kräuterfrauen wurden nun als „Hexen“ verteufelt.

Das Wort Hexe stammt wohl vom althochdeutschen Wort „hagazussa“ ab. Es bedeutet „Zaunreiterin“, also eine Frau, die sich im Wald aufhält und Kräuter sammelt, und war ursprünglich eine durchaus positive, fast ehrfürchtige Bezeichnung. Doch nun wurde das Wort negativ gedeutet: Aus der kräuterkundigen weisen Hexe wurde nun eine schädigende Zauberin.

Verfolgt wurden sie aber zunächst nicht. Der Papst nahm die Frauen sogar öffentlich gegen Diskriminierungen in Schutz, und die Strafen waren noch milde. Erst als das Christentum die Alleinherrschaft über spirituelle Bereiche erlangt hatte, kam es zu den grausamen Hexenverfolgungen der heilkundigen Frauen (16. bis Mitte 18. Jahrhundert).

Mit den Hexen wurden auch bestimmte Pflanzen verteufelt. Nämlich die besonders geheimnisvollen, mächtigen, oft giftigen Pflanzen, deren Kraft die Kräuterfrauen zu magischen oder medizinischen Zwecken eingesetzt hatten. Diese wurden nun zu „Hexenpflanzen“. Ganz oben auf der Liste der verunglimpften Pflanzen standen die Nachtschattengewächse wie die Tollkirsche. Die waren in den damaligen schlechten Zeiten so etwas wie „Modedrogen“. Sie wurden gerne eingenommen, um die Härte des Alltags zu vergessen. Doch nun waren sie zu dämonischen Hexenpflanzen geworden, und den Frauen, die Nachtschattengewächse auch nur besaßen, wurde der Prozess gemacht. Denn man sagte den Hexen nach, Nachtschattengewächse zu Hexensalben zu verarbeiten, die den Frauen (und Männern) die Fähigkeit verlieh, auf einem Besen zu fliegen…

Doch zunächst zurück zur Tollkirsche und ihrer Geschichte: Wie alle Nachtschattengewächse ist die Tollkirsche giftig, sogar tödlich giftig: Nur zehn der schwarzen Beeren sollen einen erwachsenen Mann töten können. Der botanische Name Atropa deutet darauf hin: Er erinnert an eine der drei griechischen Schicksalsgöttinnen, die Moiren (oder Parzen, wie die Römer sie nannten): Atropos war die dritte, die Unerbittliche, die den Lebensfaden abschneidet. Im Mittelalter diente der Beerensaft als Schminkmittel. Frauen wollten große Pupillen haben, um besonders erotisch und sympathisch auf Männer zu wirken. Deshalb wurden Säfte der Pflanze in die Augen geträufelt – daher der Artname „belladonna“, „schöne Frau“. Die damit verbundenen Sehstörungen wurden für die Schönheit gerne in Kauf genommen.

Atropa belladonna enthält die stark giftigen Alkaloide Atropin, L-Hyoscyamin und Scopolamin. Schon in geringen Mengen (ein, zwei Beeren) verursachen sie Wahnvorstellungen – deshalb „Toll“-kirsche oder auch Wut- oder Irrbeere.

Die Giftigkeit der Pflanze war natürlich bekannt. Man schätzt, dass dies seit 10 000 bis 20 000 Jahren zu dem Wissen der Völker gehörte, denn die Tollkirsche wurde in der europäischen Steinzeit als Pfeilgift verwendet.

Die Germanen kürten die Tollkirsche zur „Pflanze der Walküren“. Denn wer die Beeren isst, ist den Walküren ausgeliefert und wird nach Walhall entführt. Wotan, der Vater der Walküren, war auch der Herr der Jagd. Jäger aßen ihm zu Ehren vor der Jagd drei, vier der magischen Beeren, um die Sinne zu schärfen und um bei der Jagd erfolgreich zu sein.

Kriege wurden mit dem Gift der Pflanze entschieden, indem man Wein und Branntwein Tollkirschensaft zufügte, um so den Gegner zu töten oder zu narkotisieren. So setzten die Schotten die Pflanze als biologische Waffe ein: Als die Dänen im 11. Jahrhundert in Schottland einfielen, mischten die Schotten, geführt von ihrem König Duncan I., Tollkirschensaft in die Nahrung der Feinde. Dadurch wurden die Dänen völlig orientierungslos, und sie konnten problemlos geschlagen werden.

Die Tollkirsche wird in vielen alten Geschichten als ausgezeichnetes Mordmittel, oder als Narkotikum genannt.

Medizinisch wurde die Tollkirsche in der Volksmedizin auch eingesetzt. Belegt sind äußerliche Anwendungen, zum Beispiel bei Lähmungen. In Osteuropa wurde Atropa belladonna aber auch zur Abtreibung eingesetzt.

Die Tollkirsche war also eine starke Waffe im magisch-medizinischen Arsenal der alten Kräuterfrauen und wurde, wie geschildert, mit diesen verteufelt als Hexenpflanze. Tollkirsche und andere Nachtschattengewächse, vor allem Bilsenkraut (siehe Folge 3 vom Juli 2012) und Stechapfel, sollten zu Hexen-, Buhl- oder Flugsalben verarbeitet worden sein (Nebenbei: Schon Homer erwähnt die Verwendung von Hexensalben). Diese Salbe (aus harmlosen Fetten und Ölen mit Zusatz von Nachtschattengewächsen) wurde auf Genitalien, Stirn und Achselhöhlen gestrichen. Außerdem wurde der Besen damit eingeschmiert. So sollte es Hexen möglich gewesen sein, auf dem Besen zu fliegen. Sie hatten wohl selbst den Eindruck, auf dem Besen zu reiten. Denn eine typische Erscheinung von leichten Vergiftungen und den damit verbundenen Sinnestäuschungen ist das Gefühl zu fliegen.

Tollkirschen-Extrakte wurden auch in Hexenprozessen benützt, um Geständnisse zu bekommen. Mit Erfolg: Unter dem Einfluss des Tollkirschengiftes berichteten die angeklagten Frauen von Besenritten. Das wiederum galt als Beweis.

Doch die Tollkirsche wurde nicht nur verteufelt, ihr wurde auch die Macht zugeschrieben zu schützen – nämlich genau vor Hexen. Dazu wurde die Wurzel als Amulett um den Hals getragen.

Und es gab einen Liebeszauber: Wollten sich Mädchen für einen Mann begehrenswert machen, wurde ihnen geraten, Tollkirschenwurzel auszugraben und sie auf dem Kopf nach Hause zu tragen, ohne dass das jemand merkt.
Und in den Alpenländern wurde der Saft der Tollkirsche Wein und Branntwein zugefügt. Das sollte die Wirkung des alkoholischen Getränks verstärken. Wer das trank, bekam einen Rausch im wahrsten Sinne des Wortes.

Quellen:

u.a. Gerhard Madaus: „Bioheilmittel“, und Katalog „Druidenfuß und Hexensessel“, Ausstellung über magische Pflanzen, Frankfurt am Main 2004, und verschiedene Internetseiten, etwa
www.gifte.de

Ursula Armstrong | Redaktion | Sperberweg 2 | D-82152 Krailling | Telefon: +49 (0) 163 / 313 21 10 | e-mail: mail@uschi-armstrong.de | www.redaktion-armstrong.de
Tollkirsche


Wie bräunlich-violette Glockenblumen sehen die die Blüten der Schwarzen Tollkirsche aus. Werden sie nicht von Bienen oder Hummeln bestäubt, können sie sich auch spontan selbst bestäuben. Im Sommer trägt die Tollkirsche gleichzeitig grüne Blütenknospen, braune Blüten, grüne unreife Beeren und schwarze reife Beeren nebeneinander.

Foto: Armstrong

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